Apr 18, 2021

Von
zeitgenössischer Schlichtheit

„Ansicht der neuen Anatomie zu Göttingen“ lautet die Bildunterschrift dieser kolorierten Radierung von Friedrich Besemann (1796-1854).

Unsere Grafik zeigt das Gebäude kurz nach seiner Eröffnung im Jahr 1829. Die Bauausführung oblag dem Göttinger Unternehmer Christian Andreas Rohns (1787-1853). Die Pläne stammen von den Universitätsbaumeistern Justus Heinrich Müller (1783-1825) und Otto Praël (1793-1862). Diese Grafik eignet sich lehrbuchmäßig für eine kunstgeschichtliche Architekturbeschreibung. Einige zentrale Begriffe der Architektur lassen sich daran schön zeigen.

 

Dachformen in Koepf/ Binding, S. 117

Durch die Verwendung der Zentralperspektive bildet das zweigeschossige Gebäude mit Walmdach und der Kuppel, die zu dem rückseitig gelegenen Lehrsaal gehört, den dominierenden Mittelpunkt des Bildes. Das Walmdach ist eines von vielen verschiedenen Dachformen. Die Anordnung der Dachflächen hilft die Dachform zu bestimmen.

 

 

 

 

 

Säulenordnungen in Koepf/ Binding, S. 406.

Der Eingang ist als Portikus gestaltet und weist vier dorische Säulen auf. Ein Portikus ist eine Vorhalle an der Hauptfront eines Gebäudes. Sie wird meist von Säulen getragen. Die Säulen werden nach sogenannten Säulenordnungen unterschieden. Eine davon ist die dorische Säulenordnung. Dies geht auf den antiken Architekturtheoretiker Vitruv zurück. So gibt es nach ihm drei unterschiedliche Säulen-Typen: die Dorische, die Ionische und die Korinthische Säulenordnung. Architektur wird von unten nach oben gegliedert. So auch die Säulen. Unten ist eine Basis, es folgt die eigentliche Säule und der obere Teil heißt Kapitell. Dorische Säulen haben keine Basis. Am besten sind die Säulenordnungen an den Kapitellen zu unterscheiden. Später entwickelten sich  weitere Typen von Säulen und Mischformen.

 

Das hohe Sockelgeschoss ist durchgängig gequadert (rustiziert). Es ist mit sechs Fenstern versehen. Im Hauptgeschosses liegen in einer vertikalen Linie über den Fenstern des Sockelgeschosses sechs hohe schmale Sprossenfenster. Die Sprossenfenster sind unterhalb mit einer Konsole und oberhalb mit einem getreppten Vorsprung (Gesimsbekrönung) versehen.

Die schlichte Formensprache, die Anordnung der verwendeten Stilelemente erzeugen zugleich auch den Eindruck von Harmonie. Zusammengenommen lässt dies an eine Anlehnung an den venezianischen Architekten Andrea Palladio (1508-1580) denken. Sein Einsatz von der römisch und griechisch geprägten Bauweise und seine dazu verfassten architekturtheoretische Schriften waren von großer Bedeutung und nachhaltiger Wirkung. Im Klassizismus des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts wurde Palladios Bauweise im besonderen Maße mit der Verwendung von Elementen der antiken griechischen Tempelbauweise aufgegriffen.

Heute sind Architekturtheorien aus unterschiedlichsten Jahrhunderten und die architektonische Formensprache, wie die Säulenordnung, die vorschreibt, welche Säule für welche Art von Gebäude genutzt werden soll, ein Bestandteil des universitären Studiums der Kunstgeschichte.

Die „Neue Anatomie“ entspricht der zeitgenössischen klassizistischen Bauweise. Beim Bombenangriff am 7. April 1945 wurde das Bauwerk, das an der heutigen Berliner Straße stand, zerstört. Unser Blatt ist somit ein wichtiger Sachzeuge für diesen Profanbau und die Architekturgeschichte der Stadt.

Literaturhinweis: Koepf/ Binding: Bildwörterbuch der Architektur, Regensburg 2005.

von Simone Hübner und Adina Eckart

Über Simone Hübner

Simone Hübner ist Kuratorin im Städtischen Museum Göttingen.