Jun 29, 2023

Reise | Akte. Sechs Aktzeichnungen aus Italien und ihr Weg über Braunschweig nach Göttingen.

Gastbeitrag von Friederike Röpke
Von museum

Im Grafikmagazin des Städtischen Museums Göttingen befindet sich ein kleines Konvolut an Zeichnungen, das auf den ersten Blick wie eine unscheinbare Sammlung von Aktstudien anmutet. Doch bei genauer Betrachtung und etwas Recherche offenbart sich eine interessante Reiseroute, die die Zeichnungen vor etwa 250 Jahren zurückgelegt haben.

Die sechs Aktstudien (Abb. 1) zeigen verschiedene, in unterschiedlichen Posen arrangierte Aktmodelle, wobei die meisten sitzend, lediglich eine Figur stehend, dargestellt ist. Dabei variieren die Darstellungsweisen: mal dynamisch, mal statisch; mal den Betrachtenden zugewandt, mal abgewandt. Außerdem sind die Zeichnungen nicht immer vollständig ausgeführt. Fünf von ihnen sind in schwarzer und weißer Kreide angefertigt, eine wurde mit einem Rötelstift gezeichnet. Auch die Zustände der Blätter sind unterschiedlich: es lassen sich fehlende Ecken, Risse an den Rändern, Flecken und andere kleine Makel erkennen.

Abbildung 1: Die sechs Aktstudien aus dem Bestand des Städtischen Museums Göttingen.

 

Über die Zeichnungen hat Marianne Menze 1997 einen Sammelbandbeitrag publiziert, der die Grundlage für eine (wissenschaftliche) Auseinandersetzung mit diesem Konvolut bildet. Sie hat darin u. a. die Provenienz – also die Herkunft der Zeichnungen – aufgezeigt.

In diesem Blogbeitrag möchte ich die Ergebnisse Menzes sowie neuere Erkenntnisse der Forschung und weitere Fragen an die Objekte präsentieren und damit auf mögliche Anknüpfungspunkte und das Potenzial zur weiteren Beforschung des Konvoluts hinweisen. Zudem soll die Reiseroute der Zeichnungen rekonstruiert werden und ich möchte Sie und euch dazu einladen, sich mit mir auf den Weg von Italien nach Göttingen zu machen, um die einzelnen Etappen nachzuvollziehen.

Startpunkt Bologna

Die Zeichnungen wurden in Italien, genauer in Bologna angefertigt. Dafür sprechen die Wasserzeichen, die auf einigen der sechs Blätter vorhanden sind. Diese werden erst durch ein Durchleuchten des Papiers mit Hilfe einer Leuchtfolie oder Lampe sichtbar. Die Wasserzeichen auf den Blättern stammen von den Papierherstellern Perti und Masetti, die im 18. Jahrhundert in der Nähe von Bologna tätig waren. Eine Aktstudie in Rötel, die sich im Bestand der Kunstsammlung der Universität in Göttingen befindet und im Zusammenhang mit den sechs Zeichnungen aus dem Städtischen Museum steht, weist ebenfalls eine Papiermarke von Perti und Masetti auf. Diese Wasserzeichen bezeugen die Herstellung des Trägermaterials – also des Papiers – und geben einen ersten Hinweis auf den Ort, an dem die Zeichnungen hergestellt worden sein könnten. Da an Kunstakademien das Zeichnen nach dem lebenden Modell ein wichtiger Bestandteil der künstlerischen Ausbildung war, kann davon ausgegangen werden, dass die Blätter vermutlich in der Bologneser Kunstakademie – der Accademia Clementina – genutzt wurden. In speziell für das Aktzeichnen eingerichteten Studiensälen, konnten die Künstler:innen die Modelle aus ihrem jeweiligen Blickwinkel zeichnen. Giampietro Zanottis Zeichnung von 1739 (heute im Besitz des Getty Museums in Los Angeles, Inv. Nr. 96.GB.314) zeigt einen solchen Aktsaal der Bologneser Kunstakademie.

Abbildung 2: Rötelstudie aus dem Städtischen Museum Göttingen.

Ein weiterer Hinweis auf die Provenienz der Zeichnungen und ihren Bezug zur Kunstakademie findet sich auf der Rötelstudie (Abb. 2): es handelt sich dabei um eine Aufschrift, die unten links aufgebracht wurde und bisher in der Forschung unbeachtet blieb. Dort steht in schwarzer Tinte geschrieben „Questo e Quello che fu Premiato. del 1765“ („Dies ist diejenige, die 1765 verliehen wurde.“). Dies bedeutet, dass die Zeichnung 1765 einen Preis erhalten hat (Abb. 3). In der Accademia Clementina wurde u. a. der sogenannte Fiori-Preis für Aktstudien sowie Architekturzeichnungen vergeben. In den Archivakten der Akademie sind die Gewinner der Preise aufgelistet, weshalb für die Rötelstudie aus dem Städtischen Museum folgende Kandidaten von 1765 in Frage kommen: Angelo Gottarelli, Giuseppe Zambelli, Angelo Longhi, Ubaldo Bonvicini, Nicola Levoli, Vincenzo Pedretti, Pietro Fabbri.
Diese neue Erkenntnis wäre ein guter Anknüpfungspunkt, sich mit diesen kaum bekannten Bologneser Künstlern genauer auseinanderzusetzen, um die Frage nach der Zuschreibung der Rötelzeichnung (und der anderen Blätter) zu beantworten.

Abbildung 3: Aufschrift auf der Rötelstudie aus dem Städtischen Museum.

 

Es gibt weitere Aufschriften auf den Blättern, die hilfreich für eine zukünftige Beforschung des Konvoluts sein könnten. Da einige Zeichnungen fest auf ein Passepartout aufgeklebt sind, konnten die Rückseiten bisher nicht untersucht werden. Auf ein paar Blättern lässt sich allerding eine Aufschrift erahnen, die auf den lange Zeit in Göttingen als Kustos der Universitätskunstsammlung tätigen Künstler Johann Domenico Fiorillo (1748–1821) hinweist. Zunächst wurde in der Forschung angenommen, dass es sich dabei um die Zuschreibung der Zeichnungen an Fiorillo als ihren Urheber handelt. Allerdings kann eher davon ausgegangen werden – so Menze –, dass sich die Blätter einst im privaten Sammlungsbestand Fiorillos befunden haben könnten. Der aus Hamburg stammende Künstler italienischer Abstammung hatte seine künstlerische Ausbildung in Bayreuth, Rom und Bologna absolviert. In Bologna war er von 1765 bis 1769 just an der genannten Accademia Clementina und erhielt dort auch einige Preise für seine Zeichnungen. Nach seinem Aufenthalt in Bologna reiste er nach Braunschweig, um dort als Hofmaler zu arbeiten. Vermutlich nahm Fiorillo einige Zeichnungen seiner Künstlerkolleg:innen und Lehrer von seinem Ausbildungsort in Italien mit nach Norddeutschland.

Next Stop: Braunschweig

In Braunschweig betrat Fiorillo vertrautes Terrain, denn bereits sein Vater war am Braunschweiger Hof als Hofkapellmeister tätig. Dort verkaufte Fiorillo nachweislich ein Konvolut von 40 Zeichnungen an den Herzog Karl I. von Braunschweig-Lüneburg und späteren Fürsten von Braunschweig-Wolfenbüttel (1713–1780). Diese 40 Zeichnungen stammen von Bologneser Künstlern und wurden zusammen mit weiteren Zeichnungen in ein großformatiges Album geklebt. Dieses befindet sich noch heute im Kupferstichkabinett des Herzog Anton Ulrich-Museums in Braunschweig.
Ein Indiz der Zusammengehörigkeit der Zeichnungen aus Braunschweig und Göttingen ist die Paginierung, die sich rechts oben auf einigen Zeichnungen befindet (Abb. 4) und vermutlich von Fiorillos Hand stammt.

Abbildung 4: Eine der Paginierungen auf einem Blatt aus dem Städtischen Museum Göttingen.

Laut Menze überschneiden sich die Nummern nicht, weshalb sie aus einer gemeinsamen Sammlungsordnung stammen könnten. Da einige Ziffern fehlen, kann davon ausgegangen werden, dass sich noch mehr Zeichnungen im Besitz Fiorillos befunden haben müssen. Es stellt sich daher die Frage, wo die fehlenden Zeichnungen verblieben sind. Oder sind es Blätter aus den Beständen der Museen in Göttingen und Braunschweig, die nachträglich beschnitten wurden und die fehlenden Nummern entsprechend nicht mehr lesbar sind? Und falls dieser Fall zuträfe: Woran kann man das erkennen? Diese Fragen könnten einen Ansatz zur Untersuchung des bisher weitestgehend unbeforschten Fiorillo-(Kern)Bestandes bilden. Dabei könnte die Rolle Fiorillos als Sammler genauer untersucht werden und den Fragen nachgehen werden, wie und was er gesammelt hat und welche Quellen es diesbezüglich gibt.

Endstation Göttingen oder: Sie haben ihr Ziel erreicht

Als Fiorillo 1781 die Stelle als Zeichenlehrer und Aufseher über das Kupferstichkabinett an der Georgia Augusta in Göttingen erhielt, nahm er vermutlich einige seiner gesammelten Zeichnungen mit. Von diesen konnten bisher nur die sechs Zeichnungen aus dem Städtischen Museum sowie die Rötelstudie aus der Universitätskunstsammlung als Objekte aus seinem Bestand identifiziert werden. Inwieweit er die Blätter als Studienmaterial in der Zeichenlehre genutzt hat, ist nicht bekannt. Ebenfalls offen bleibt die Frage, wie und wann die sechs Akstudien in das Städtische Museum kamen und demgegenüber (mindestens) eine Zeichnung in den Besitz der Universitätskunstsammlung überging. Lassen sich dafür Kaufbelege, Urkunden oder anderes Archivmaterial in den Akten der Universität, des Städtischen Museums oder eines anderen Archivs finden?

Sich mit Objekten zu beschäftigen, die in Depots oder Schränken verwahrt und selten bis gar nicht be(gut)achtet werden, birgt großes Potenzial. Bei einem Gang und Blick in Grafikmagazine und Kupferstichkabinette findet man oftmals verborgene Schätze, die darauf warten (wieder)entdeckt und bearbeitet zu werden. Sie bieten auch Studierenden (der Kunstgeschichte) die Möglichkeit, sich bereits im Rahmen einer Hausarbeit oder Abschlussarbeit mit einem (bislang unbeforschten) Konvolut oder Objekt zu beschäftigen.

Auch, wenn sich unsere Reise hier dem Ende zuneigt, ist die Beforschung der Aktzeichnungen aus dem Städtischen Museum noch lange nicht abgeschlossen. Viele neue Wege bleiben einzuschlagen, vielleicht lässt sich an der ein oder anderen Stelle noch abbiegen oder ein vermeintlicher Umweg führt zu neuen Erkenntnissen und Fragen. Ich hoffe, ich habe Sie und euch mit meinem Blogbeitrag neugierig auf diese Weiterreise gemacht und vielleicht sogar jemanden dazu angeregt, sich mit diesem interessanten, überregionalen beziehungsweise internationalen Sammlungskontext zu beschäftigen.

Literatur:

Zu den Zeichnungen aus dem Städtischen Museum: Marianne Menze: Das künstlerische Schaffen Johann Dominicus Fiorillos vor dem Hintergrund seiner Ausbildung zum Zeichner und Maler in Rom und Bologna, in: Antja Middelhof Kosegarten (Hg.): Johann Dominicus Fiorillo. Kunstgeschichte und die romantische Bewegung um 1800, Göttingen 1997, S. 114–144.

Zu den Bologneser Wasserzeichen: Pierangelo Bellettini: Il gonfalone, l’ancora e la stella. Filigrane bolognesi nella prima meta del XVIII secolo, in: L’Archiginnasio. Bollettino della Biblioteca comunale di Bologna, Bologna 1996, S. 163–203.

Zu Aktstudien: Susanne Müller-Bechtel: Von allen Seiten anders: die akademische Aktstudie 1650–1850, Berlin/München 2018.

Zu dem Fiori Preis der Accademia Clementina in Bologna: Michelangelo Giumanini: Studenti in arte. Il premio Fiori (1743-1803), Bologna 2001.

Zu dem Bestand in Braunschweig: Christian von Heusinger: Herzog Anton Ulrich-Museum Braunschweig: Die Handzeichnungssammlung, Textband: Geschichte und Bestand: Katalog zu Tafelband I mit einem Beitr. von Reinhold Wex, Braunschweig 1997.

Zu der Zeichnung aus der Kunstsammlung der Universität: Friederike Röpke: Kat. 43, in: Isabella Augart / Anne-Katrin Sors / Michael Thimann (Hg.): Werk | Prozesse. Italienische Handzeichnungen des 15. bis 18. Jahrhunderts in der Kunstsammlung der Universität Göttingen, Göttingen 2023. (Im Druck)

 

Friederike Röpke macht derzeit zwei Masterabschlüsse an der Universität Göttingen in den Fächern Kunstgeschichte mit Schwerpunkt Kuratorische Studien und Komparatistik mit Nebenfach Kunstgeschichte. Ihren Bachelor hat sie in Skandinavistik und Ur- und Frühgeschichte in Göttingen und Bergen (Norwegen) absolviert. Während ihrer vierjährigen Anstellung als studentische Hilfkraft in der Zentralen Kustodie der Universität Göttingen sowie im Rahmen von Praktika im Museum Hameln und dem Niedersächsischen Landesmuseum in Hannover, konnte sie bereits erste Erfahrungen in der Museumspraxis sammeln und sich außerdem vertiefend mit den Göttinger Universitätssammlungen auseinandersetzen. Von 2020 bis 2023 war sie am Forschungs- und Ausstellungsprojekt Werk | Prozesse. Italienische Handzeichnungen des 15. bis 18. Jahrhunderts in der Kunstsammlung der Universität Göttingen des Kunsthistorischen Instituts der Universität beteiligt und hat in diesem Kontext mehrere italienische Zeichnungen beforscht.

Über museum