Was für ein Absturz: Zur ihrer Entstehung in der Mitte des 17. Jahrhunderts standen die beiden großformatigen Gemälde im Mittelpunkt des politischen Interesses und genossen in Göttingen höchste Wertschätzung! Und dann hingen sie jahrzehntelang unscheinbar in der Dauerausstellung des Städtischen Museums: schlecht beleuchtet, dürftig erläutert, von den wenigsten Besuchern beachtet.
Erst jetzt, fast vierhundert Jahre später, sind sie wieder in ihr altes Recht eingesetzt und gelten als zwei der stadtgeschichtlich wohl bedeutendsten Kunstwerke in der Sammlung des Museums: die Gemälde der beiden Belagerungen Göttingens im Dreißigjährigen Krieg 1626 und 1641.
Ihren Wiederaufstieg verdanken die Bilder den umfassenden Recherchen des Kunsthistorikers Thomas Appel, die jetzt in Buchform vorliegen: „Göttinger Stadtgeschichte im Bild. Die Belagerungen im Dreißigjährigen Krieg 1626 und 1641.“ Zunächst einmal ist es Appel durch hartnäckige Suche in den Registern des Stadtarchivs gelungen, die Urheber der Bilder zu identifizieren: Die Belagerung von 1641 stammt von dem Göttinger Maler Daniel Münch, sein Sohn Justus schuf die Darstellung der Ereignisse von 1626.

Vermutl. Justus Münch, Die Belagerung Göttingens durch Johann Tilly 1626, Öl/Lwd., 143,5 x 248 cm, 1645/46
Des weiteren weist Appel mit Nachdruck darauf hin, dass es sich hier um die ältesten Göttinger Ölgemälde weltlichen Inhalts und zugleich um die ältesten, topografisch genauen Darstellungen der Stadt handelt. Der Detailreichtum der Bilder ist für Historiker, Kunsthistoriker, Denkmalschützer und alle an der Geschichte ihrer Stadt interessierten Göttinger eine unerschöpfliche Fundgrube.

Detailaufnahme, Militärgruppe mit der Tillyschen Fahne, auf dem Schimmel in Rüstung u. Rückenansicht, wahrscheinlich Tilly selbst
Aber auch zu den dargestellten Ereignissen selbst hat Appel zahlreiche neue Erkenntnisse zu Tage gefördert. So konnte er glaubhaft machen, dass es sich bei dem prominent in Rückenansicht auf einem Schimmel dargestellten Reiter im Vordergrund der Belagerung von 1626 um General Tilly handelt, der wenig später siegreich in Göttingen einziehen konnte.
Last but not least aber hat der Verfasser die kunsthistorische und politische Bedeutung der Gemälde herausgearbeitet. Als Maler waren die beiden Münchs von mittelmäßiger Qualität. Als aufeinander bezogenes Bilderpaar aber, in Auftrag gegeben von der betroffenen Stadt – nicht von einem siegreichen Feldherrn zur Mehrung seines Ruhms – stehen die beiden Gemälde in der europäischen Kunstgeschichte wohl einzigartig dar. Engstens damit verknüpft ist dann auch die politische Funktion der Bilder: Der Auftrag durch den Rat der Stadt Göttingen erfolgte noch vor dem Friedensschluss von Münster und Osnabrück 1648. Ziel war es offenbar, damit die offizielle Interpretation der Kriegsereignisse in repräsentativer Form festzuhalten. Göttingen hat zwar im Krieg viel erlitten, dank der Hilfe Gottes und unter der weisen Führung seines Rates schließlich aber alle Schrecknisse überstanden. Die Gemälde sind nichts weniger als herausragende Dokumente einer gezielten Geschichtspolitik des Göttinger Rats.
Neben der anregenden Lektüre bietet das Buch von Thomas Appel dem Besucher vielfältige Hinweise, um die Gemälde bei einem persönlichen Besuch im Städtischen Museum eingehender zu studieren. Wollen wir hoffen, dass dies bald wieder möglich ist!

Thomas Appel: GÖTTINGER STADTGESCHICHTE IM BILD. Die Belagerungen im Dreißigjährigen Krieg 1626 und 1641.