Das bewegte Leben von Barbara, bürgerlich Monique Andree Serf, geboren 1930 in Paris, spiegelt die großen Themen des 20. Jahrhunderts in Europa wider: Zweiter Weltkrieg, Vertreibung und Vernichtung von Juden durch die
Nationalsozialisten, die langsame Überwindung alter Feindschaften, der Beginn des neuen europäischen Gedankens und der Aussöhnung.
Am 4. Juli des Jahres 1964 besteigt Monique/ Barbara in Paris ein Flugzeug. Sie fliegt nach Deutschland, denn sie hat ein Engagement für drei Abende hintereinander im Jungen Theater in Göttingen zugesagt. Die ursprüngliche Flugzeit ist wegen eines Streiks in Orly nach hinten verschoben worden. Es wird eng. Ankunft ist erst um 18:25 Uhr in Hannover. Dann noch die Fahrt nach Göttingen. Und um 22.00 Uhr ist schon der erste Auftritt. Barbara ist wütend auf sich selber. Sie hat sich von Hans-Gunther Klein, dem Leiter des Jungen Theaters in Göttingen, zu diesem Auftritt überreden lassen. Eigentlich möchte sie aber nicht in Deutschland singen. Als sie schließlich ankommt, ist bis zum Auftritt also nur wenig Zeit. Schnell in das Theater zum Licht und Ton-Check!
Dies klingt wie der Anfang der Geschichte zur Erstehung des Göttingen Liedes, doch die Geschichte beginnt viel früher.
Sie fängt an in der Zeit als Monique/ Barbara sich mit ihrer jüdischen Familie im Südwesten Frankreichs verstecken muss, ab 1940. Nach dem Einmarsch Hitlers können sich hier im État Français jüdische Franzosen leichter verbergen. Aber das Vichy-Regime, das hier herrscht, kollaborierte mit den Nazis, daher sind diese Familien immer von Denunziation bedroht. So auch die Familie Moniques, die deshalb mehrmals umziehen muss. So wächst Monique/Barbara auf, zwischen ihrem 10. und ihrem 15. Lebensjahr. Und schließlich wird die Familie auseinander gerissen und findet erst nach Kriegsende wieder zusammen. Diese Umstände erklären ihre lange Weigerung in Deutschland, auf deutschen Bühnen, aufzutreten.
Aber 1964 ist einiges anders. Es ist ein bedeutungsvolles Jahr für Barbara.
Sie ist 34 Jahre alt und steht vor einem neuen Lebensabschnitt, sie befindet sich in einer Umbruchsituation, die sie selber spürt. Barbara wechselt die Plattenfirma und singt zum wiederholten Mal im französischen Fernsehen. Sie nimmt eine Platte auf: Barbara chante Barbara (Barbara singt Barbara). Diese Platte markiert ihre künstlerische Entwicklung. Nicht mehr reine Interpretin, wird Sie nun endgültig zur Texterin und Komponistin ihrer eigenen Lieder. Und Barbara nimmt Abschied, Abschied aus der Écluse, so heißt ihre bis dahin wichtigste künstlerische Heimat. Sie war dort die sogenannte Mitternachts-Sängerin mit großer Fangemeinde in einem kleinen Club mit vierzig Sitzplätzen. Ab Herbst dieses Jahres 64 wird sie in den großen Konzertsälen in Paris auftreten.
In Frankreich ist Barbara auf Erfolgskurs.
In dieser Zeit – zwischen dem alten Vertrauten und den neuen unbekannten Aufgaben – fährt sie nach Göttingen.
Als Barbara am Abend des 4. Juli in das Junge Theater in Göttingen kommt, steht auf der Bühne ein Klavier und nicht der von ihr ausdrücklich geforderte und vertraglich zugesagte Flügel. Ihr Unmut bricht sich nun Bahn, sie verweigert einen Auftritt mit einem Klavier. Und in der Folge geschieht nun das, was als auslösenden Impuls zum Göttingen-Lied verstanden werden kann.
Zehn Studenten, die meisten sind aus dem Romanistischem Seminar, die zur dieser Zeit ein Stück im Jungen Theater aufführen, schaffen einen Flügel herbei und wuchten ihn auf die Bühne. Das anschließende Konzert Barbaras wird ein großer Erfolg, ebenso die beiden weiteren Auftritte. Barbara ist versöhnt, dieser Umschwung der Gefühle ist sicherlich der Auslöser für sie, den Text zu Göttingen als Ausdruck des Aufeinander Zugehens zu schreiben. Bei ihrem dritten und letzten Auftritt trägtsie die erste, noch unvollendete Fassung bereits vor, die Zuhörer sind tief beeindruckt.
Zu Recht, denn bis weit in die 1970er Jahr war das Verhältnis zwischen Franzosen und Deutschen noch angespannt, es dauert, bis die europäische Politik der Aussöhnung, die ihren Ausdruck 1963 im Elysee Vertrag gefunden hat, auch in der Bevölkerung gelebt wird: Zu tief saßen die Wunden des 2.Weltkriegs in Frankreich. Und in Deutschland hatte 1964 die Aufarbeitung der Schrecken des Zweiten Weltkriegs auch nach 20 Jahren noch nicht, oder besser gesagt kaum begonnen.
Umso bedeutender ist und wird dieses Lied, es wird zum Soundtrack der französisch-deutschen
Aussöhnung. In Frankreich erreicht Göttingen eine Platzierung in den Charts, Barbara singt es bei vielen Konzerten, das Lied wird in Frankreich sehr bekannt.
Göttingen kann stolz darauf sein, mit dieser Geste der Versöhnung in Verbindung gebracht zu werden.
Sie sind neugierig geworden und möchten gerne mehr über die Barabras Besuch 1964 lesen? – Zu der Sonderausstellung Barbara 1964 ist ein Begleitband erschienen. Weitere Informationen finden Sie hier.