Jun 7, 2016

7. Juni 2016

Glasperlen und Gemetzel. Eine Sablémappe aus dem Nachlass der Emettula de Froment Teil II Nicht nur das Äußere des im vorigen Blogbeitrag beschriebenen Mäppchens ist außergewöhnlich, auch das Innere birgt eine interessante Geschichte. Das Mäppchen, auch als Portefeuille bezeichnet, gedacht für lose Blätter, trägt rechts auf dem hellen Seidenatlasfutter eine handschriftliche Widmung mit schwarzer Tusche geschrieben: […]

Glasperlen und Gemetzel. Eine Sablémappe aus dem Nachlass der Emettula de Froment Teil II

Nicht nur das Äußere des im vorigen Blogbeitrag beschriebenen Mäppchens ist außergewöhnlich, auch das Innere birgt eine interessante Geschichte. Das Mäppchen, auch als Portefeuille bezeichnet, gedacht für lose Blätter, trägt rechts auf dem hellen Seidenatlasfutter eine handschriftliche Widmung mit schwarzer Tusche geschrieben:

EMETTULLA DE FROMENT. trouvée au sacre d`oczakoff par Mylord Keith

Deutlich zu lesen sind die Ziffern: 17 0, während die dritte Ziffer verwischt ist. In den Unterlagen des Museums ist 1780 vermerkt.Abb. 3

Gibt man „Emet(t)ulla“ in die Suchfunktion des Internets ein, erscheint sofort „George Keith, 10. Earl Marischal, schottischer Adliger (1693- 1778) in Potsdam gestorben. Dessen jüngerer Bruder James kämpfte als General in russischen Diensten gegen das Osmanen Heer und wurde 1737 nach der Belagerung und Erstürmung der Festungsstadt Oczaków verwundet.[1] Dort fand er (trouvée = gefunden fem.) bei dem „Gemetzel“, (massacre, franz.:- Massaker) die 12jährige „Emet (t)ulla“, türkische Tochter des Janitscharenhauptmanns Sar Aly Oda Bachy, und rettete ihr so das Leben. Eine andere Übersetzung des Wortes „sac(re)“ ins Deutsche (eigentlich: rel.: Weihe, Opfer, Salbung) könnte durch Verschleifung, wie bei „(mas)sacre“ die 2. Bedeutung von „sac“= Plünderung sein. [2]

George Keith nahm Emetulla an Kindes Statt an und förderte sie, so dass sie „mit dem ungezwungenstem Anstand die Honneurs des Hauses machen konnte“. 1747 zog George Keith, Marischal, zu seinem Bruder James nach Berlin, der dort in preußischen Diensten stand, und traf das erste Mal Friedrich den Großen (1712-1786).                                                                        1754 wurde er Gouverneur von Neuenburg (heute Neuchátel, Schweiz), das damals der preußischen Verwaltung Friedrichs unterstand. Während seiner Zeit in Neuenburg begegnete er auch Jean-Jacques Rousseau, der in die Nähe von Neuenburg gezogen war. Auf seinen „Gesandschaftsreisen“ wurde er stets von seiner Pflegetochter begleitet, hin und wieder auch von dem berühmten schottischen Reiseschriftsteller James Boswell (1740-1795).                        Erst 1763 wird „Emmetah-Uelah“,( die Barmherzigkeit Gottes) „ die eine auffallende Schönheit und im hohen Grade liebenswürdig“ war, von Lord Marshal George Keith an den Hugenotten  Denis-Daniel de Froment verheiratet, nachdem sie zum Christentum übergetreten war und den Namen Marie Émeté angenommen hatte.                                                                                           1764 kehrte der Lord nach Berlin zurück. Er starb 1778 in seinem vom König in Auftrag gegebenen Haus, dem heutigen Lordmarschallhaus, in Potsdam. Marie Emeté, die schon seit 1765 geschieden war, lebte mit ihm bis zu seinem Tod; sie starb 1820 in Neuchátel, im Alter von 95 Jahren. Wann sie dorthin zurückkehrte, ist nicht bekannt.

Eine weitere Widmung im Innern des Mäppchens findet sich auf der Seite unten:                 „Souvenir de (da?) Marianne?/ i Leipzig, 19. oct.: 68”                                                                                   Diese Zueignung bleibt für mich allerdings im Dunkeln.

Wie lässt sich nun ein Zusammenhang herstellen, aus dem hervorgeht, auf welchen verschlungenen Wegen „Le Portefeuille“ ins Städtische Museum von Göttingen gelangt ist. Das Objekt ist seit Oktober 1940 Teil der Sammlung. Das Eingangsbuch verzeichnet es „als Geschenk der Ellen Dubois-Reymond, die früher im preußischen Neuchátel wohnten (die Familie)“. Da Ellen Dubois-Reymond (1858-1915) in Göttingen nicht gemeldet war und zu diesem Zeitpunkt schon lange tot ist, hat sie vielleicht jemanden für die Schenkung beauftragt. Sie war eine der Töchter des Physiologen Emil Heinrich Du Bois- Reymond (1818-1896), der aus einer Uhrmacherfamilie im Schweizer Kanton Neuenburg stammte. Sein Vater Felix Henri war unter anderem Ziviladjutant des Statthalters in Neuenburg und Direktor für die Neuenburger Angelegenheiten im Ministerium des Auswärtigen in Berlin – und somit gibt es auch eine Verbindung zu Preußen. Der Bezug zu Göttingen besteht durch ihre 4 Jahre jüngere Schwester Aimée, verheiratet mit dem Mathematiker Prof. Carl Runge, der 1904 einen Ruf an die Universität Göttingen bekommen hatte. Die Familie mit 5 Kindern wohnte zunächst in der Hanssenstraße, ab 1908 in der Wilhelm-Weber-Straße. Die älteste Tochter Iris (1888- 1966) war als Lehrerin kurze Zeit während des 1. Weltkriegs am Göttinger Lyzeum tätig, ehe sie 1920 nach Schloss Salem verzog, wo sie am neu gegründeten Internat als Mathematiklehrerin unterrichtete.

Vielleicht hatte Iris Runge, die Nichte von Ellen Dubois-Reymond, den Auftrag das kleine Konvolut von Familienerbstücken ins Städtische Museum zu geben, kurz bevor Aimée Runge, ihre Mutter (Schwester von Ellen) am 24. Februar 1941 starb und der Haushalt aufgelöst wurde? Alles nur Vermutungen, es könnte auch ganz anders sein.

Was für eine Historie!

Nach der Recherche ist mir erst richtig bewusst geworden, warum dieses Objekt eine solche Faszination auf mich ausgeübt hat: ein kostbares, kunstvoll gestaltetes Geschenk, in das eigentlich nur lose Blätter eingelegt werden, erhält durch die handschriftlich eingetragene Widmung ein hohes Maß an Authentizität.

[1] Oczakoff ist hier eine Mischung der westslawischen Schreibweise „Ocz.“= Otsch  und der Lautschrift entsprechenden deutschen Form „ków“= koff. Die ukrainische Küstenstadt – heute Otschakiw – liegt östlich von Odessa am Schwarzen Meer.                                                                    [2] vielleicht, auch deshalb, weil die zugezogenen Hugenotten und der einheimische Adel das Französisch vorwiegend phonetisch beherrschten.

Lit.: aus Islamische Zeitung. Preußisch – Osmanische Fügungen, Anmerkungen von Muhsin Sebastian Henning anlässlich des 300-jährigen Jubiläums von Friedrich dem Großen. In: http://german.irib.ir/radioislam/beitr

Musée Neuchatelois. Ferdinand-Olivier Petitpierre. http://www.forgottenbooks.com/readbook_text/MuseYe

(Ulla Kayser, ehrenamtliche Mitarbeiterin)

 

Über Ulla Kayser

Ulla Kayser ist ehrenamtliche Mitarbeiterin im Städtischen Museum Göttingen.