
Abb. 1: Eintrag im Gästebuch des Gasthauses Koch: „Es freut mich zu erzählen zu dieser späten Stunde um h 1.35 dem zehnten März 1936 im Lokale „Mutter Koch“ zu Wenden, daß mein Freund „Willi Hermann Köller“ mit seiner netten Gesellschaft mich zu diesem Kegelabend eingeladen hat. Ich wünsche allen ein glücklichen Abend und eine schöne Zükünft.“ Mostafa Kemal „Pascha“. Der Eintrag erfolgte in lateinischer Schrift statt der damals in Deutschland üblichen „ Sütterlinschrift“). Außerdem gleichen sich die Schrift des Textes und die Unterschrift. Dies deutet darauf hin, dass der Eintrag von Mustafa Kemal selbst stammt, der also des Deutschen mächtig gewesen sein muss. Ob das Wort „Zükünft“ ein echter Fehler oder aber eine ironische Anspielung auf die Vorliebe des Türkischen für den Ü-Laut ist, muss offen bleiben.
Diese Frage beantworten die Archive. Dort, im Stadtarchiv Göttingen, liegt das Gästebuch des Gasthauses Koch. Und darin findet sich tatsächlich ein Eintrag vom 10. März 1936 von einem Mostafa Kemal „Pascha“ – einmal in arabischer Schrift und einmal auf Deutsch. Schnell wird klar: Atatürk kann es nicht gewesen sein. Er weilte zu dieser Zeit nachweislich in Ankara. Wer hat aber dann zu später Stunde im Gasthaus Koch gefeiert?
Eine Nachfrage im Universitätsarchiv bringt die Lösung an den Tag. An der Universität Göttingen war von 1934 bis 1936 ein „Mostafa Kamel“ immatrikuliert, der allerdings nicht aus er Türkei, sondern aus Kairo stammte. Dazu passt, dass das Arabisch auf eine ägyptische Herkunft des Einträgers schließen lässt. „Kamel“ statt „Kemal“: Das ist eine nachvollziehbare Verschreibung eines fremden Namens. Dieser Name wiederum ist typisch türkisch.
Nun geht der Weg zurück ins Stadtarchiv. Dort findet sich tatsächlich die Einwohnermeldekarte von Herrn Mustafa Kemal. Er wurde am 22. Februar 1908 in der ägyptischen Stadt Tanta im Nildelta geboren. Am 28. Oktober 1934 kam er von Berlin nach Göttingen, studierte hier Geophysik und wohnte zunächst Friedländer Weg 11, ab dem 7. Januar 1935 Hoher Weg (heute Hermann-Föge-Weg) 7. Ende 1936 ist er offenbar in die belgische Hauptstadt Brüssel weitergereist. Bei Mustafa Kemal scheint es sich folglich um einen türkischen Bürger des ehemaligen Osmanischen Reichs gehandelt zu haben, der in der vormaligen osmanischen Provinz Ägypten lebte und nach dem Untergang der Herrschaft des Sultans dort „hängen geblieben“ ist. Für seine kulturelle Prägung als Türke spricht auch, dass sein Arabisch einfach und fehlerhaft ist. Bei dem feucht-fröhlichen Abend im Gasthaus Koch war die Namensgleichheit mit Atatürk wohl ein willkommener Anlass, ihm spaßeshalber den Ehrentitel Pascha zu verleihen. Die ironischen Anführungszeichen weisen darauf hin.
Nicht Atatürk war also in Weende, aber er war hier wie auch sonst im nationalsozialistischen Deutschland sehr populär. Das weitere Schicksal von Mustafa Kemal aus Ägypten werden wir vielleicht nie erfahren. Sicher ist aber, dass er als Zeitzeuge die bewegte Geschichte des türkischen Volkes und des Nahen Osten im 20. Jahrhundert erlebt hat.
Und sicher ist auch: Archive sind die Garanten der historischen Wahrheit gegen fake news aller Art!