„Probieren geht über studieren“
Die Redewendung „Probieren geht über studieren“ kennt wahrscheinlich jeder. Sie stammt von dem Mediziner und Chemiker Friedrich Wöhler (1800-1882), der von 1836 bis zu seinem Tod als Professor an der Göttinger Universität wirkte. Mit seinen Worten sprach er aus Erfahrung. Zu seinen Lebzeiten befand sich die chemische Forschung noch in ihren Anfängen und war als Fach an den Hochschulen kaum vertreten. Durch seine erfolgreichen Experimente gelang Wöhler die Synthese von Harnstoff. Er gilt damit als Pionier der organischen Chemie und Biochemie. Bahnbrechend ist auch seine Reduktionsmethode, mit der er erstmals reines Aluminium entwickeln konnte. Wöhler baute das Chemische Laboratorium in Göttingen zu einer Forschungsstätte von internationalem Rang aus. 1857 wurde er für seine Verdienste um die Göttinger Chemie zum Ehrenbürger der Stadt ernannt.
Das Städtische Museum verwahrt eine nach dem Leben modellierte Büste des Chemikers. Die deutsch-amerikanische Bildhauerin Elisabet Ney (1833-1907), die sich durch Bildnisse von Arthur Schopenhauer und Jacob Grimm einen Namen machte, porträtierte Friedrich Wöhler im Jahre 1868 in mehreren Sitzungen. Die Büste war in einer kolossalen Ausführung für den Neubau der Polytechnischen Hochschule in München vorgesehen und sollte mit einem Bildnis von Justus von Liebig das Eingangsportal der chemischen Abteilung schmücken. Wöhler fühlte sich sehr geschmeichelt durch diese Auszeichnung. Er fürchtete aber, dass sich sein schmaler Oberkörper und sein hageres Gesicht nicht für ein Porträt eignen würden. Seine Sorgen erwiesen sich jedoch als unbegründet. Das Porträt mit den markanten Gesichtszügen wirkt sehr lebensnah und kommt den Fotografien des Chemikers sehr nahe. Die grazilen Proportionen werden durch eine klassische Manteldraperie überspielt, die die Zeitlosigkeit und Würde der Darstellung unterstreicht.
Das Ergebnis gefiel Wöhler so gut, dass er sofort einen Abguss bestellte. Auch zahlreiche Kollegen und Freunde wie Justus von Liebig und August Wilhelm von Hofmann erhielten Exemplare. Elisabet Ney stellte daher eine umfangreiche Abgussserie her und vertrieb das Werk über die Gipsgießerei der Gebrüder Micheli in Berlin, durch die Exemplare sogar bis Philadelphia gelangten. Noch heute produziert die Gipsformerei der Staatlichen Museen zu Berlin Abformungen der Büste. Das Wöhler-Porträt wurde vor allem von dem Bildhauer Ferdinand Hartzer (1838-1906) geschätzt. Er verwendete es als Vorlage für sein Denkmal des Chemikers in Göttingen, das 1890 enthüllt wurde.
Wöhler selbst bekam einen Abguss seiner Büste noch im Dezember 1868. Das Exemplar befand sich bis 1906 in Familienbesitz. Wöhlers Tochter Emilie vermachte das Werk testamentarisch dem Städtischen Museum. Seit 1984 ist es als Dauerleihgabe in der Kunstsammlung der Universität Göttingen.
(Saskia Johann, freie Mitarbeiterin)