Mai 10, 2019

Flasche oder Fläschchen ?

Das ist hier die Frage…,denn bei der Inventarisierung im Museum sollen Verkleinerungsformen wie „Fläschchen“ als Objektbezeichnungen möglichst vermieden werden. Dennoch entschieden wir uns fürs Fläschchen, im besonderen Fall das Riechfläschchen, da es sich hier um eine feststehende Objektbezeichnung handelt.

In der Literatur ist es an prominenter Stelle zu finden – beispielsweise in Goethes Faust. So ruft Gretchen in der Szene vor dem Dom „Nachbarin! Euer Fläschchen!“ (Regieanweisung: fällt in Ohnmacht). Das mit Riechsalz gefüllte Zierfläschchen, im Pompadour oder in der Gewandtasche der Dame diskret verwahrt, sollte stets schnell zur Hand sein, um Abhilfe zu schaffen. Gretchen zu jung und, wie wir wissen, zu unerfahren, bittet die ehrbare Nachbarin darum.

In meiner Schulausgabe des „Faust“, dem sog. Trunz, als Pflichtlektüre 1960 am Gymnasium für Mädchen (heute Hainberg- Gymnasium), steht zur besagten Zeile (3834) folgender Kommentar:„Jahrhunderte haben nicht nur psychische, sondern auch physische Eigenheiten; zu denen des 18. Jahrhunderts gehören die häufigen Ohnmachten. Man trug als Gegenmittel Riechfläschchen bei sich. Gretchens Ruf sagt nur: „ich werde ohnmächtig“ und bedient sich dabei einer Wendung, die damals häufig vorkam….“

Verschwiegen wird hier schamhaft der eigentliche Grund für diese häufigen Ohnmachten im 18. Jahrhundert: Die durch die Mode vorgeschrieben engen Korsetts und Schnürungen ließen den Frauen buchstäblich keine Luft zum Atmen mehr!

Die hübschen Flacons waren mit stark riechenden Substanzen, sogenannten Riechsalzen, gefüllt und wurden zur Belebung bei Schwindel und Ohnmachtsanfällen unter die Nase gehalten.

Wenn wir den Gebrauch unterschiedlicher Fläschchen bis in unsere Zeit verfolgen, können wir feststellen, dass in fast jeder Epoche „Mittelchen“ für mehr oder weniger starke Unpässlichkeiten und Zustände zur Verfügung standen: Da wären zunächst die sehr verbreiteten HOFFMANNS TROPFEN (Ätherweingeist / oder Spiritus aethereus) als Stimulans des Zentralnervensystems, den Kreislauf anregend – schon Mitte des 19. Jahrhundert sehr in Mode; die starkwirksamen, rezeptpflichtigen OPIUMTROPFEN  (u.a. gegen Reisediarrhöe),  die DREIERLEI TROPFEN (Baldriantinktur, Pfefferminzöl und Spiritus)  als Magenmittel bei Völlegefühl etc. in den beginnenden Wirtschaftswunderzeiten, und später die RESCUE TROPFEN der Bachblütentherapie bei Erregung und Panik aus der alternativen Pflanzenheilkunde. Das alles waren besondere Flüssigkeiten, hergestellt in den Apotheken und dort lose abgefüllt in Tropffläschchen, bis sie von Fertigarzneimitteln verdrängt und ersetzt wurden.

Fast zwei Jahrhunderte hindurch hielten (meist) Frauen diese Art Fläschchen, abgefüllt in der Apotheke, neben dem Parfümflacon in ihren Handtaschen für den „Notfall“ bereit, ganz dem besseren Wohlbefinden, dem Zeitgeist und Lebensgefühl entsprechend.

 

Abb.1: Riechfläschchen, Kristallglas und Metall, 18./19. Jh.; Abb.2: Das Riechfläschchen in Aktion: Marguerite Gérard, “Schlechte Nachrichten“, 1804, Louvre, Paris (Bildnachweis: Pascal3012); Abb. 3: Riechfläschchen, Elfenbein und Silber, verm.18. Jh.; Abb.4: Riechfläschchen, Milchglas und Messing, 18./19. Jh.

 

(Ulla Kayser, ehrenamtliche Mitarbeiterin)

 

 

Über Ulla Kayser

Ulla Kayser ist ehrenamtliche Mitarbeiterin im Städtischen Museum Göttingen.